Prognosemärkte sind zu ehrlich
Sollte man auf den Tod anderer Menschen wetten? Sollte man so etwas verbieten? Wir sollten das ertragen können.
Wenn man derzeit öffentlich über Israel oder Palästina redet, wird einem entweder unterstellt man wäre für den Genozid von Palästinensern oder für den Genozid von Juden oder vielleicht sogar beides. Als ob es keine Positionen in der Mitte gäbe, die es wert wären zu diskutieren.
Vizekanzler Habeck hat sich nicht abschrecken lassen und wurde weithin für die folgende Rede gelobt.
Die Süddeutsche hat den Text auch zum Lesen. Aus dem letzten Absatz:
Wer die Hoffnung auf Frieden in der Region nicht aufgegeben hat, wer am Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und eine wirkliche Perspektive festhält - und das tun wir -, der muss jetzt in diesen Wochen der Bewährung differenzieren.
Differenzieren ist nicht einfach, denn Werte und Moral lassen uns oft instinktiv reagieren. Werte und Moral sind gute Prinzipien, aber nicht präzise. Um in komplexen unsicheren Situationen gute Entscheidungen zu treffen braucht es mehr.
Prognosemärkte haben ein ähnliches Problem. Für manche Leute ist es Glücksspiel und deswegen moralisch verwerflich. Oder es ist prinzipiell in Ordnung aber bestimmte Fragen sind tabu: Darf man auf Menschenleben wetten?
Manche Menschen sehen da keinerlei Problem. Jeder der eine Lebensversicherung abschließt wettet auf ein Menschenleben. Vieles was als Altersvorsorge gehandelt wird ist auch Glücksspiel. Wie viele Tote es in Kriegen gibt, ist eine relevante Größe.
Finden Sie es in Ordnung, auf Todesmärkte für Kriege zu wetten? (z. B. wie viele Menschen im Krieg zwischen Israel und Hamas sterben werden)?
Die meisten Leute sagen, dass Todesmärkte über Kriege geschmacklos sind und Amateuren nicht offen stehen sollten, um darauf zu wetten, während einige Leute sagen, dass Todesfälle keine besondere Art von Statistik sind und es keine solche Abneigung gegen Todesmärkte über Kriege geben sollte.
Prinzipien geben grobe Richtlinien vor, aber in diesem Rahmen gibt es immer noch eine große Freiheit gute und schlechte Entscheidungen zu treffen. Wir müssen der Realität ins Auge sehen können um gute Entscheidungen zu treffen. Für mich geht es hier um Ehrlichkeit.
Das muss nicht so rücksichtslos sein wie bei Ray Dalio. Trotzdem muss man anerkennen, dass er einer der erfolgreichsten Hedgefonds-Manager ist. Einen guten Teil des Erfolgs schreibt er seinem Prinzip der “radikalen Transparenz” zu. Er treibt es nur arrogant und unhöflich zu weit. Es geht mir hier aber überhaupt nicht um sozialen Umgang.
Im Kern geht es vielleicht darum, ob man die Realität erträgt. Das ist etwas, was jeder Mensch mit sich selbst ausmachen muss. Zum Beispiel steigt die Wahrscheinlichkeit zu sterben ab einem gewissen Alter statistisch stark an. Es sieht danach aus, dass die USA nächstes Jahr wählen dürfen zwischen einem 81-jährigen einem 78-jährigen Präsidenten. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass mindestens einer der beiden vorher stirbt und die Wahrscheinlichkeit ist gar nicht so gering.
Wir haben Angst davor bei einem Überfall getötet zu werden, dabei ist die Grippe viel gefährlicher (Deutschland 2019: 324 gegen 1659 Tote). Noch zehnmal tödlicher (16.657) sind Stürze. Noch zwanzigmal tödlicher als das sind die Spitzenreiter Krebs und Herzinfarkt.
Wir stecken unser Geld in “sichere” Anlagen und riskieren eine reduzierte Altersvorsorge durch Gebühren, Opportunitätskosten, Wertverlust, und Ähnliches.
Wir fühlen uns gut, wenn wir einem Kind in Afrika ein Schulstipendium spenden. Dabei wäre es fast 100-mal so effektiv das Geld in Entwurmungsprogramme zu investieren.
Würdest du Aktien eines Unternehmens kaufen, dessen Chef sagt, er sehe nur eine 30% Chance, dass es länger überlebt? Klingt nicht nach einer sicheren Geldanlage. Wer hat schon Lust an einem Projekt mit 30% Erfolgsaussicht zu arbeiten? Sollten Anführer nicht optimistisch sein? In diesem Fall wäre es gut gewesen, denn es war Jeff Bezos über seine Firma Amazon im Jahr 2000. Der Aktienpreis ist heute fast das 100-fache von damals.
Es geht mir (zumindest in diesem Artikel) gar nicht darum, ob die Aussagen da oben wahr sind. Da lässt sich bestimmt auch kritisieren und argumentieren. Es geht mir darum, dass wir Menschen oft anders handeln, als wir selbst glauben handeln zu sollen. Wir Menschen sind sehr gut darin, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren. Wir denken einfach nicht mehr groß darüber nach. Prognosemärkte können da schonungslos ehrlich eine andere Realität widerspiegeln. Intuitiv reagieren wir mit Ablehnung und Rationalisieren.
Ob wir auf die Anzahl ziviler Opfer in der Ukraine oder einen Impfstoff für Hepatitis C reden, ist moralisch gleich. In beiden Fällen sterben viele Menschen. Der Unterschied ist, dass im zweiten Fall das Sterben nicht so offensichtlich ist.
Es erfordert eine gewisse innere Stärke die Realität zu ertragen. Wir Menschen sehnen uns nach Sicherheit. Das sollte aber nicht bedeuten, dass wir die Augen vor der Unsicherheit der Realität verschließen und den Kopf in den Sand stecken.
Für viele Menschen sind Prognosemärkte zu ehrlich. Es fühlt sich falsch oder unmoralisch an. Manche Dinge wollen wir doch gar nicht wissen oder sollten wir nicht wissen. Um zum Eingangsbeispiel von Habeck’s Video zurückzukommen: Für manche ist es überraschend wie viel brutale Gewalt wir da auf einmal sehen. Antisemitismus, Rassismus, Nazis, Terror, etc. Das war ja alles vorher schon Realität. Nur wird es uns nun auch von der Tagesschau offenbart.
Diesen Horror unserer Realität zu ignorieren führt nur dazu, dass wir falsche Entscheidungen treffen. Wir sollten uns mehr Ehrlichkeit zutrauen und dadurch die Fähigkeit erlangen zu Differenzieren. Es wäre hilfreich, um die vielen Konflikte und Krisen zu bewältigen.
Und wer glaubt, dass die Realität zu chaotisch ist für Prognosen, der kann ja mal lesen, wie manche es doch schafften, bei der Wahl des Speaker of the House in den USA, richtig zu liegen.
Wahrscheinlich bis nächsten Monat, liebe Leser! 😊